Abstraktion nature

Text: Laura Kubitzek

In der 2016 begonnenen Fotografie-Serie Abstraktion nature befasst sich simone de saree mit Motiven, denen sie in der Natur begegnet; wie bei Abstraktion manmade nutzt die Künstlerin hier die Perspektive sowie die schwarz-weiße Darstellung, um die Bildgegenstände für die betrachtenden Personen zu verfremden. Anders jedoch als bei Abstraktion manmade lassen hier die gewählten Bildausschnitte teilweise noch eher auf das Objekt hinter der Fotografie schließen oder dieses zumindest erahnen.

Die Strukturen, die in der Natur vorzufinden sind – ob es sich dabei nun beispielsweise um Grashalme, Baumrinde oder Gesteinsbrocken handelt –, haben einen hohen Wiedererkennungswert. Es gibt kaum ganz glatte Oberflächen oder sehr gerade Linien, und genau das spiegelt sich auch in der Serie von simone de saree wider. Während in Abstraktion manmade durch die außergewöhnliche Perspektive meist Objekte in Bezug zum Umraum und zueinander gesetzt werden, legt die Wahl des Bildausschnitts, der Fokus und besonders auch die meist geringe Entfernung in Abstraktion nature das Augenmerk auf die Beschaffenheit der Objekte. Abstraktion nature zeigt also individuelle Strukturen auf, wo bei manmade eher der gegenteilige Eindruck entsteht und individuelle Strukturen zu verschwinden scheinen.

Die Reduktion auf Grauwerte sorgt in dieser Serie vor allem dafür, dass die Beschaffenheit der Objekte in das Zentrum der Wahrnehmung rückt. Die Betrachter*innen können nicht auf ihr Wissen bezüglich der Farbigkeit bestimmter Gegenstände zurückgreifen, die gerade bei Objekten aus der Natur aufschlussreich sein könnte. Stattdessen tritt die Struktur der Gegenstände durch die schwarz-weiße Farbgebung und die Kontraste in den Vordergrund.

Eine der Fotografien zeigt hierbei in einem querrechteckigen Format vermutlich mehrere verschieden große Steine, die in einem gebogenen Felsspalt klemmen. Dieser beginnt knapp neben der linken Bildkante, etwas oberhalb der linken unteren Ecke, und zieht sich in einem ansteigenden Bogen bis kurz vor die rechte Bildkante, wo er etwa Dreiviertel der Höhe erreicht. Der Umraum um den Spalt ist – wohl durch die Belichtungssituation – ganz in Weiß gehalten, das nur gelegentlich durch feine dunkle Risse durchbrochen wird, die einem die Materialität in Erinnerung rufen. Obwohl der betrachtenden Person eigentlich klar ist, dass der gesamte Bildausschnitt Felsen und Steine zeigt, entsteht – dadurch, dass der Felsspalt nirgends vom Bildrand angeschnitten wird und der Umraum relativ monochrom erscheint – der Eindruck einer Rahmung des fokussierten Bildgegenstandes.

Die dunkelsten Stellen im Bild sind dort zu sehen, wo die Steine in Verbindung mit dem Spalt Schatten erzeugen, vor allem am linken Rand. Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und legen für d* Betrachter*in binnen eines Augenblicks das Zentrum der Wahrnehmung fest. Im ersten Moment mag dabei vielleicht – unterstützt durch den nach außen hin immer heller werdenden Farbverlauf – die Assoziation eines halboffenen Mundes mit nach unten gezogenem Mundwinkel entstehen, oder die einer grob vernähten Wunde; sobald der betrachtenden Person jedoch der Stein am höchsten Punkt des Bogens mit seiner eindeutigen Struktur auffällt, treten diese Eindrücke hinter der erkennbaren Materialität des Steins zurück, die dann auch an anderen Stellen im Bild deutlich erkennbar wird.

Eine weitere Aufnahme zeigt einige horizontal und diagonal durch den (annähernd) quadratischen Bildraum verlaufende Grashalme oder Baumnadeln. Die meisten der erkennbaren schmalen Streifen sind hierbei in Weiß gehalten und dadurch hauptsächlich dort zu sehen, wo sie sich vom dunkleren Hintergrund abheben; an den zahlreichen Stellen im Bild, wo der Hintergrund ebenfalls weiß ist, sind sie nicht – oder wenn, nur aufgrund ihres Schattens – auszumachen. Durch die starken Schwarz-Weiß-Kontraste und die Aufteilung: helle Objekte vor dunklem Hintergrund, entsteht der Eindruck eines Negativs einer Fotografie, wodurch der Bildgegenstand noch stärker verfremdet zu sein scheint.

Der Fokus im Bild ist nicht klar ersichtlich; die Streifen im Mittelgrund sind unscharf – alles dahinter gelegene noch stärker, sodass der Hintergrund sich in schwarze und weiße Farbflächen aufgliedert, die über Graustufen ineinander verlaufen. Im Vordergrund, angeschnitten vom rechten Bildrand, sind einige Halme oder Nadeln zu sehen, die in den Bildraum hineinragen und in sich stärkere Variationen an Grauwerten aufweisen als die anderen Streifen, wodurch sie schärfer erscheinen, dabei jedoch immer noch eine Gewisse Unschärfe aufweisen.

Diese wenigen Halme, die der Blick der betrachtenden Person vielleicht eher zufällig streift, geben hier Aufschluss über den zugrundeliegenden Bildgegenstand. Sowohl die Sehgewohnheit, nach denen Bilder von links nach rechts gelesen werden, als auch die Kontraste der Aufnahme – die stärksten Kontraste finden sich im linken Teil des Bildes, wo weiße Streifen über schwarzem Grund zu sehen sind – helfen d* Rezipient*in hier nicht dabei, den Bildinhalt zu entschlüsseln. Erst die eingehende Betrachtung und die bewusste Auseinandersetzung mit der gesamten Komposition führen zum rechten Bildteil, in dem die subtileren Kontraste auf die Materialität der Objekte schließen lassen. Dadurch werden die Streifen zu Grashalmen oder Baumnadeln, und die kontrastreichen Flächen im Hintergrund aufgrund des Kontextes zu Zweigen oder Schatten im Wald oder der Wiese.
Diese Fotografie erinnert durch die starken Kontraste und den Negativ-Charakter an die in den 1920er Jahren für künstlerische Zwecke unter anderem von Christian Schad, Man Ray oder Laszló Moholy-Nagy genutzten Fotogramme, die durch die direkte Belichtung von Objekten auf lichtempfindlichem Untergrund entstehen.
Wie zahlreiche der Aufnahmen aus Abstraktion manmade, erinnern die Fotografien der Serie Abstraktion nature auch häufig an Malerei. Jedoch weniger an die konstruktivistischen Herangehensweisen mit ihren klaren, geometrischen Formen, sondern eher an Werke aus dem abstrakten Expressionismus. Generell erscheinen die von simone de saree inszenierten Aufnahmen von Objekten aus der Natur in ihrer Ästhetik expressiver und weniger minimalistisch als ihre anderen Arbeiten.

Dies liegt wohl zum einen an den Bildgegenständen selbst, die durch ihre Strukturen einem klaren Minimalismus entgegengesetzt sind, aber auch daran, wie die Künstlerin mit den Objekten umgeht: anstatt sie einer sehr reduzierten Ästhetik zu unterwerfen, nutzt simone de saree hier die Verfremdung durch Bildausschnitt und Graustufen, um ebenjene Strukturen zu betonen und eine Art der Darstellung zu wählen, die – beispielsweise durch die immer wieder auftauchenden Diagonalen – ihrer persönlichen Ästhetik, aber auch der der Gegenstände selbst gerecht wird.