Odysseia – I´ve seen it all

Text: Laura Kubitzek

Bereits seit 2010 befasst sich die Künstlerin Simone de Saree in ihren Arbeiten mit reduzierter Zeichnung und Grafik; seit 2012 findet in ihren Werken zudem eine Fokussierung auf die Farbe Weiß statt. Diese formale und farbliche Reduktion sorgt für eine minimalistisch-ätherische Ästhetik, die zum einen durch die vielfältige Erscheinung der Farbe Weiß, zum anderen durch die leichten Materialien in Kombination mit klaren Formen zustande kommt.

Die Arbeit »Odysseia – I´ve seen it all« entstand 2013. Es handelt sich dabei um eine Rauminstallation aus fünf nebeneinander hängend angeordneten, vertikalen, weißen Papierbahnen von 120 mal 33 Zentimetern, die sich mit der von Homer verfassten Odyssee auseinandersetzt. Die Bahnen wurden im Zufallsprinzip mittels Intagliotypie – einem Druckverfahren ähnlich der Ätzradierung, jedoch schonender für die Umwelt – mit kalligrafisch ausgearbeiteten, kurzen Auszügen der Odyssee bedruckt und in der Tradition japanischer Papierarbeiten mit einem „Seiden“-Faden – einem feinen Faden aus Algenfaser – in Stabbindung gebunden. Durch die weiße Farbe des gedruckten Textes und die Mehrschichtigkeit der Bahnen – jede Bahn besteht hierbei wiederum aus vier Lagen des feinen Papiers – ergeben sich vielfältige Eindrücke der vermeintlich einheitlichen Farbe Weiß. Ästhetisch stehen bei der Installation die klaren Formen und die weiße Farbe im Vordergrund. Bestimmt wird die Erscheinung – vor allem aus der Entfernung – von der rechteckigen Form der fünf Papierbahnen, die sich aus der Nähe betrachtet auch in den umrahmten Textabschnitten wiederfindet. Diese geometrische Form bildet den Rahmen der Arbeit und durchdringt sie: durch die Überlagerung der transparenten Papierlagen entstehen Überschneidungen von Textfeldern, die wiederum weitere Rechtecke in Weiß-Abstufungen bilden.

Die ersten niedergeschriebenen Auseinandersetzungen mit Farben finden sich in den Aufzeichnungen griechischer Philosophen. Auch Homers Odyssee selbst enthält Beschreibungen der Farben, wie beispielsweise in der Ekphrase des Palastes des Alkinoos. Die Grundlage der Farbtheorien in der griechischen Antike bildete der Gegensatz zwischen Dunkel und Hell, Schwarz und Weiß. In der peripatetischen Schrift.

Über die Farben werden Weiß – als Farbe des Wassers, der Luft und der Erde – und Gold – als Farbe des Feuers – als Grundfarben gesehen, während Schwarz als Prozess der Elemente im Wandel begriffen wird; nach dieser Theorie entstehen Farben erst im Wandel von Hell zu Dunkel.
Im Sinne dieser antiken Farbentheorie gestaltete Simone de Saree ihre Arbeit ganz in Weiß, wobei erst durch entstehende Überlagerungen und den Wechsel der Betrachtungsperspektive verschiedene Farbwerte durch Hell-Dunkel-Abstufungen sichtbar werden. Die weiße Schrift auf weißem Grund lässt sich zunächst kaum erkennen und entzieht sich so einem flüchtigen Blick der betrachtenden Person; es bedarf einer bewussten Auseinandersetzung und eines Umschreitens der Arbeit, um sie in all ihren Facetten erfassen zu können. Die Schrift tritt dann durch das Spiel von Transparenz des unbedruckten Papiers und Opazität der bedruckten Stellen zutage. Durch die Überlagerung der verschiedenen Blätter entstehen zudem weitere Abstufungen und Schattierungen, die das Entziffern der altgriechischen Lettern der Textpassagen erschweren.
Hinzu kommt, dass wohl nicht wenige der Betrachter und Betrachterinnen gar nicht in der Lage sind, die Textteile tatsächlich lesen zu können, da sie der altgriechischen Schrift und Sprache nicht mächtig sind. Sie müssen auf den Titel der Arbeit zurückkommen, der ihnen hierbei als einziger Anhaltspunkt für den Bildgegenstand dient. Auch wenn hierbei der Titel des Epos selbst ebenfalls in altgriechischen Lettern zu lesen ist, kann er durch die Ähnlichkeit zur Schreibweise im uns geläufigen lateinischen Alphabet relativ problemlos entziffert werden. Die Schrift und Sprache des gedruckten Textes stellen bei den betrachtenden Personen also eine Hürde beim Verständnis der Arbeit dar; mit dem Titel gibt de Saree jedoch den entscheidenden Hinweis auf die zugrunde liegende Quelle. Bei vielen wird dies vermutlich bestimmte Assoziationen an einzelne Erlebnisse Odysseus' wecken, da den meisten wohl – wenn sie auch nicht die Odysse in ihrer Gänze kennen – zumindest Auszüge dieser Geschichte bekannt sind. Im Gegensatz zur zeitgenössischen medialen Aufbereitung von Bildern – besonders in allen Formen von Werbung, aber auch in zahlreichen Filmen oder Fotografien – ist 1Vgl. Gage, John: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. London 1993, S. 11- 13 u. 57. 2 die Installation nicht plakativ und aufgeregt, sondern zurückhaltend und ruhig gestaltet. Ihre klare Form und reduzierte Farbgebung verleihen ihr einen minimalistischen Charakter und in ihrer monochrom weißen Farbgestaltung erinnert sie an die weißen Arbeiten Malewitschs, die zwischen 1917 und 1918 entstanden und in denen er die Gestaltungsmöglichkeiten nur mit Hilfe der Faktur und die Andeutung von Unendlichkeit durch die Verwendung der Farbe Weiß erkundete.2 Auch de Saree arbeitet nur mit der Faktur, wenn sie Weiß auf Weiß druckt und auch Unendlichkeit spielt in ihren Werken insofern eine Rolle, dass die Künstlerin sich der Erkundung des Raumes – dem physischen und dessen zeitlicher Abhängigkeit – und seinen Grenzen widmet. Das Thema der Erkundung des Raumes spiegelt sich in der Wahl des Textes wider: die Odyssee zeugt von der beschwerlichen Reise Odysseus' mit dem eigentlichen Ziel der Heimat. Anstatt jedoch direkt dorthin zu gelangen, durchlebt der Held eine lange Irrfahrt; durch zahlreiche Zufälle gelangte er so an die verschiedensten Orte, die für seine weitere Reise eine bedeutende Rolle spielten. Auch dieses Element des Zufalls kommt in der Arbeit de Sarees zum Ausdruck; zum einen bereits während des Druckvorgangs, zum anderen durch die vom Lichteinfall und Standpunkt der betrachtenden Person abhängigen Eindrücke, die durch Überlagerungen und Schattierungen entstehen und sich so stets verändern. Simone de Saree schafft damit ein Werk, das für die betrachtende Person zunächst schwer zu erfassen ist und erst durch eingehende Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven seine Vielschichtigkeit offenbart. Der Rezipient oder die Rezipientin selbst wird mit einer Situation konfrontiert, in der sich nicht – wie es der Sehgewohnheit durch die Medien entspricht – innerhalb von Sekunden die Bedeutung der Bilder erschließt, sondern wird dazu angeregt, sich selbst aktiv mit dem Sehen auseinanderzusetzen. Durch die Arbeit mit Nuancen kreiert die Künstlerin eine Installation, die eben diese Sehgewohnheiten der Betrachter und Betrachterinnen herausfordert; nicht nur die Bedeutung erschließt sich nicht auf Anhieb – der Bildgegenstand selbst muss erst gefunden werden. Ähnlich Odysseus auf seiner beschwerlichen Reise nach Hause muss die betrachtende Person sich nach und nach an 2Vgl. Gage, Kulturgeschichte der Farbe, 1993, S. 225. 3 das Werk herantasten und über die visuellen Eindrücke, die Lichteinfall und Überlagerungen im Zusammenspiel mit den Weiß-Abstufungen schaffen, einen eigenen Weg hin zur Bedeutung und zum Kern der Arbeit finden.